 |
Jüdisches
Wien |
 |
(weil ich hier wohne) |
 |
 |
 |
Leopoldstädter Tempel Innenhof - 15.
November 2018, 13:30 Uhr
©
Erhard Gaube - www.gaube.at |
 |
Die Geschichte der Wiener Jüdinnen und Juden ist
untrennbar mit der Geschichte der Stadt Wien verbunden. Heute, nachdem die
einst blühende Gemeinde durch die Verbrechen des Nationalsozialismus nahezu
ausgelöscht worden ist, gibt es wieder eine kleine, selbstbewusste jüdische
Gemeinde (Stadt Wien - www.wien.gv.at). |
 |
Leopoldstädter Tempel |
 |
Synagoge Tempelgasse,
Israelitisches Bethaus Leopoldstadt |
 |
Tempelgasse 5A, 1020 Wien |
 |
Dieser Bericht basiert auf dem Artikel "Leopoldstädter_Tempel"
der de.wikipedia.org |
 |
 |
 |
Der Leopoldstädter Tempel, nach Rudolf
von Alt.
Quelle:
Wikimedia Commons - Lizenz (CC-BY-SA 3.0) |
 |
Der Leopoldstädter Tempel, auch bekannt als das
Israelitische Bethaus in der Wiener Vorstadt Leopoldstadt oder Synagoge
Tempelgasse, war eine Synagoge im 2. Wiener Gemeindebezirk Leopoldstadt
(Tempelgasse 3). Die zwischen 1854 und 1858 nach Plänen von Ludwig Förster
errichtete Synagoge bot 2000 Sitzplätze und wurde 1938 während des
Novemberpogroms mit Ausnahme der Seitentrakte völlig zerstört. Heute werden
Teile des Grundstückes noch von der jüdischen Gemeinde genutzt. |
 |
|
 |
Der Leopoldstädter Tempel.
Quelle:
Wikimedia Commons - Lizenz (CC-BY-SA 3.0) |
 |
Der
Leopoldstädter Tempel diente als Vorbild für zahlreiche weitere
europäische Synagogen im orientalischen Stil, darunter die Zagreber
Synagoge, die Spanische Synagoge in Prag, die Tempel Synagoge in Krakau
und der Templul Coral in Bukarest. |
 |
 |
 |
 |
 |
Der Leopoldstädter Tempel um 1900.
Quelle:
Wikimedia Commons - Lizenz (CC-BY-SA 3.0) |
 |
Die Leopoldstädter Tempel wurde zwischen 1854 und 1858
nach Plänen von Ludwig Förster errichtet. Die Einweihungsrede wurde am 15.
Juni 1858 von Adolf Jellinek, dem ersten Prediger des Tempels, gehalten.
Erster Oberkantor wurde Josef Goldstein. 1867 predigte auch der konservativ
eingestellte Moritz Güdemann im Leopoldstädter Tempel, ab 1894 zudem Adolf
Schmiedl (1821–1913), der sich vor allem auf Grund seiner volkstümlichen
Reden großer Beliebtheit erfreute. |
 |
 |
 |
 |
 |
Der Leopoldstädter Tempel.
Quelle:
Wikimedia Commons - Lizenz (CC-BY-SA 3.0) |
 |
Weitere Prediger der Synagoge waren Elieser David aus
Düsseldorf sowie ab 1913 Max Grunwald und ab 1932 Israel Taglicht. Bereits
1898 erfolgte eine erste Generalrenovierung an der Synagoge. Hierbei wurde
insbesondere die Innendekoration durch bunte Stuckornamente aufgewertet.
1905 folgten weitere Adaptierungsarbeiten an den Fronten zur Straße bzw. im
Hof. Im Anschluss an einen Gottesdienst für jüdische Soldaten des Ersten
Weltkriegs brach am 17. August 1917 ein Feuer in der Synagoge aus, der sich
zu einem Großbrand ausweitete. |
 |
 |
 |
Ruine der Synagoge in der Tempelgasse,
Wien-Leopoldstadt, 1941. Das Foto wurde im Frühjahr 1941 von Kurt Mezei
aus Wien aufgenommen - heimlich,
da Juden der Besitz von Fotoapparaten verboten war. Kurt Mezei
(geb. 1924)
wurde am 12. April 1945 von einem SS-Kommando erschossen.
©
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes / DÖW Foto 8360 |
 |
Das Gebäude wurde dabei schwer beschädigt und es dauerte
bis 1921, bis die Restaurierung abgeschlossen werden konnte. In der
Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde der Haupttrakt mit der
Synagoge völlig zerstört. Lediglich die Seitentrakte blieben zunächst
erhalten. |
 |
 |
 |
Die Ruinen der Synagoge in der
Tempelgasse, Wien-Leopoldstadt, wurden 1941 teilweise
und Anfang der 1950er-Jahre vollständig abgetragen. An dieser Stelle
befindet sich
jetzt das Psychosoziale Zentrum ESRA und ein Wohnhaus
(Desider-Friedmann-Hof).
©
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes / DÖW Foto 9968 |
 |
Die in einem der Seitentrakte untergebrachte Bibliothek
konnte 1943 durch die couragierte Initiative des Studenten und späteren
Vorstands des Instituts für Judaistik an der Universität Wien Kurt Schubert
großteils gerettet werden. |
 |
 |
 |
|
 |
Mahnmal mit vier weißen Säulen am
Gelände des zerstörten Tempels (Tempelgasse 5A).
©
Erhard Gaube - www.gaube.at |
 |
Die Sammlung befindet sich heute in Jerusalem. Der
südliche Seitentrakt der Synagoge wurde 1951 geschleift und durch ein
Wohnhaus (Desider-Friedmann-Hof) ersetzt. Der nördliche Seitentrakt dient
hingegen noch heute als Betstätte für die jüdische Gemeinde. Neben einem
Bethaus wurde hier auch eine Talmud-Tora-Schule der Agudas Israel
untergebracht. |
 |
 |
 |
Innenhof der Leopoldstädter Tempel
Gedenkstätte, Tempelgasse 3 - 5.
©
Erhard Gaube - www.gaube.at |
 |
Die Synagoge wurde hingegen durch einen Neubau mit
Wohnungen ersetzt. Hier befindet sich heute auch das sozialmedizinische
Zentrum ESRA, das seit 1994 als Beratungs- und Behandlungszentrum für die
Überlebenden der NS-Verfolgung und deren Nachkommen dient. Die Einrichtung
übernimmt zudem die Betreuung jüdischer Migranten und fungiert als
psychosoziales Zentrum für die jüdische Bevölkerung Wiens. |
 |
 |
 |
Der Leopoldstädter Tempel .
Quelle:
Wikimedia Commons - Lizenz (CC-BY-SA 3.0) |
 |
Der Leopoldstädter Tempel war ein Beispiel des Mitte des
19. Jahrhunderts in Wien herrschenden historisierenden Klassizismus bzw.
romantischen Historismus. Jüdische Kultbauten wurden in dieser Phase mit
orientalisierenden Stilelementen versehen. Die Leopoldstädter Synagoge
bestand aus kubischen Blöcken, die auf einem breiten Grundstück errichtet
wurden. Da eine Freistellung der Synagoge vorgesehen war, wurden die
seitlichen Verwaltungstrakte durch Höfe vom Hauptgebäude getrennt. Bei den
Seitentrakten handelte es sich um relativ schmale, viergeschossige Gebäude,
die zahlreiche Einrichtungen beherbergten. Im nördlichen Seitentrakt
befanden sich neben der Mikwe und einem Versammlungsraum einige Wohnungen. |
 |
 |
 |
Eröffnung der Straßenausstellung
"Zerstörte Kultur" am 24.10.2013 in der Tempelgasse 5A
Im Bild: Oskar Deutsch, Präsident der IKG Wien, Konstantin Spiegelfeld,
Pfarrer (Pfarre Nepomuk),
Karlheinz Hora, Bezirksvorsteher Leopoldstadt, Frau Elisabeth Ben David
Hindler
(Obfrau der Steine der Erinnerung) und Peter Mlzoch, Gebietsbetreuung
(Moderation).
©
gruene.blog2.at/ausstellung-zerstorte-kultur |
 |
Im südlichen Seitentrakt wurden Gemeindebeamte
untergebracht. Das Hauptgebäude mit der Synagoge wurde als vierjochiger Bau
verwirklicht, wobei die Fassade von verzierten, gebrannten Tonziegeln in
roter und gelber Farbe verziert war. In das Innere der Synagoge gelangte man
über einen hohen, mittleren Eingangsbogen und das Vestibül. Der Hauptraum
der Synagoge mit 2000 Sitzplätzen war dreischiffig ausgeführt, wobei die
Seitenschiffe vom Hauptschiff durch hohe Rundbögen getrennt waren. Dekoriert
war das Innere mit Muschelkalk, Stuckfliesen, Mosaiken sowie Fenstern aus
geschliffenem Glas. |
 |
 |
 |
Gedenktafel in der Tempelgasse 5A.
©
Erhard Gaube - www.gaube.at |
 |
Eine Gedenktafel wurde in den 1990er Jahren angebracht,
mit einer Inschrift in deutscher und hebräischer Sprache:
„Hier befand sich der Leopoldstädter Tempel, der im Jahre 1858 nach
Plänen von Architekt Leopold Förster im maurischen Stil errichtet und am 10.
November 1938 in der sogenannten ‚Reichskristallnacht‘ von den
nationalsozialistischen Barbaren bis auf die Grundmauern zerstört wurde. –
Israelitische Kultusgemeinde Wien“ |
 |
www.ikg-wien.at |
 |
|
 |
 |
 |
Vom
Novemberpogrom zum Holocaust |
 |
Die Verfolgung der
jüdischen Bevölkerung in Wien |
 |
1938 -1945 |
 |
 |
 |
Ruine der Synagoge in der
Tempelgasse, Wien-Leopoldstadt, 1941. Das Foto wurde im
Frühjahr 1941 von Kurt Mezei aus Wien aufgenommen - heimlich,
da Juden der Besitz von Fotoapparaten verboten war. Kurt Mezei
(geb. 1924)
wurde am 12. April 1945 von einem SS-Kommando erschossen.
©
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes / DÖW
Foto 8360 |
 |
Schon in den 1930er-Jahren kommt in Wien zum
religiösen und politischen zunehmend der rassische
Antisemitismus. Mit dem Einmarsch der Hitler-Truppen im März
1938 beginnt für die Wiener Jüdinnen und Juden ein Leidensweg
ohne Vergleich. Es kommt zu ernsthaften Ausschreitungen gegen
die jüdische Bevölkerung. |
 |
 |
 |
Antisemitische Ausschreitungen
Wien 1938.
Juden werden gezwungen, Aufschriften der Vaterländischen Front
abzuwaschen.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Jüdische Bürgerinnen und Bürger werden in aller
Öffentlichkeit misshandelt und zu den erniedrigendsten Arbeiten
gezwungen. Hitlers Rassenwahn gipfelt erstmals in den Nürnberger
Gesetzen, die der jüdischen Bevölkerung so gut wie alles
verbieten und nehmen. Jüdinnen und Juden haben den gelben Stern
zu tragen. Sie haben die Vornamen "Sara" beziehungsweise
"Israel" anzunehmen. Viele Geschäfte werden enteignet
("Arisierung") und die Vermögen eingezogen. Wer flüchten kann,
geht mit leeren Händen und ohne Existenzgrundlage in eine
ungewisse Zukunft. |
 |
 |
 |
Juden müssen Judenstern
tragen; vermutlich 1941.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
|
 |
Dem ideologisch vorbereiteten und systematisch
betriebenen Massenmord an den Juden gingen unmittelbar nach dem
„Anschluss" einsetzende pogromartige Ausschreitungen voran, die
mit umfangreichen Plünderungen verbunden waren. |
 |
 |
 |
Antisemitisches Plakat.
Deutsches Plakat in russischer Sprache: "Juden - ihr ewige
Teufel" ;1943.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Einen Höhepunkt stellte die am 10./11. November
1938 stattgefundene sogenannte „Reichskristallnacht" dar
(Novemberpogrom), die keineswegs nur eine Nacht, sondern mehrere
Tage dauerte. In Wien wurden 42 Synagogen und Bethäuser in Brand
gesteckt und verwüstet, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden
(so sie nicht bereits „arisiert" worden waren) geplündert,
zerstört und beschlagnahmt. 6.547 Wiener Juden kamen in Haft,
3.700 von ihnen in das Konzentrationslager Dachau. |
 |
 |
 |
Juden müssen 1938 eine Straße
in Wien schrubben.
© Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes |
 |
 |
 |
Wien: Fünf Juden schrubben
unter Zwang den Gehsteig auf den Knien;
Hunderte Menschen sehen zu.
© Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes |
 |
Die spontanen Gewaltakte der Österreichischen
Nationalsozialisten und ihrer Mitläufer waren eine Seite des
antijüdischen Terrors, die Separierung und Diffamierung der
österreichischen Juden durch die NS-Gesetze (Einführung der
Nürnberger Rassengesetze, Dienstenthebung jüdischer Gemeinde- u.
Staatsbeamter, Ausschließung jüdischer Schüler und Studenten vom
Lehrbetrieb ...) die andere. |
 |
 |
 |
Novemberpogrom 1938:
Zerstörungen auf dem Wiener Zentralfriedhof,
I. und IV. Tor (Neuer jüdischer Friedhof). ©
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes / DÖW
Foto 444 |
 |
Die Aktionen gegen die Juden begannen am frühen
Morgen des 10. November 1938 und dauerten den ganzen Tag an. In
Wien wurden 27 Juden ermordet, 88 schwer verletzt und
misshandelt, 6547 Juden wurden verhaftet und über 4000 Geschäfte
zerstört und geplündert. Tausende Juden wurden aus ihren
Wohnungen delogiert. Unter dem Vorwand, nach Waffen zu suchen,
fanden Plünderungen in den Wohnungen und Geschäften statt. Bis
zum 9. November 1938 befanden sich in Wien sechs architektonisch
eindrucksvolle jüdische Tempel, 18 von Tempelvereinen gegründete
Vereinssynagogen und 78 Bethäuser. |
 |
 |
 |
Novemberpogrom 1938:
Verwüstete Zeremonienhalle auf dem
Wiener Zentralfriedhof, Neuer jüdischer Friedhof. ©
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes / DÖW
Foto 9972 |
 |
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten
gerieten diese Einrichtungen in immer größere Gefahr. Bereits im
Oktober 1938 kam es zu Brandanschlägen auf Synagogen und
Bethäuser und pogromartigen Ausschreitungen gegen die jüdische
Bevölkerung Wiens. Die Aggression gegen die jüdische Gemeinde in
Wien gipfelte schließlich im Novemberpogrom von 1938. Insgesamt
wurden 42 jüdische Tempel und Bethäuser im Lauf des 10. November
1938 gesprengt und verbrannt. |
 |
 |
 |
Novemberpogrom 1938:
Zerstörter Vorhof der Synagoge der Türkischen Israeliten
(Sephardim) in der Zirkusgasse ("Türkischer Tempel"),
Wien-Leopoldstadt.
© Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes / DÖW
Foto 8392 |
 |
Rollkommandos der SS verhinderten das Löschen
der Brände durch die Wiener Feuerwehr. Die Feuerwehr schritt nur
ein, wenn die umliegenden Gebäude in Gefahr waren. So wurde die
Synagoge in der Seitenstettengasse 4 im 1. Bezirk zwar innen
verwüstet, die Außenfassade wurde aber wegen der angrenzenden
Zinshäuser bewahrt. Insgesamt kennzeichnete der Novemberprogrom
in Wien besonders große Brutalität. Mehr als ein Fünftel der
Todesopfer der "Reichskristallnacht" dürften auf Wien entfallen
sein, nicht zuletzt weil eine verbreitete antisemitische
Stimmung bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung
bestand und der Vermögensentzug der jüdischen Minderheit noch
nicht soweit fortgeschritten war, um nicht die Bereicherung an
jüdischem Eigentum als lohnend erscheinend zu lassen. |
 |
 |
 |
Antisemitische Ausschreitungen
Wien 1938.
Jüdische Männer mit einem Farbtopf inmittern gaffender Wiener.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
 |
 |
Antisemitische Ausschreitungen
Wien 1938.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Allerdings erweckte nach anfänglicher
Zustimmung unter größeren Teilen der nichtjüdischen Bevölkerung
die offen zu Tage tretende Gewalt rasch negative Reaktionen und
Ablehnung selbst bei manchen NS-Anhängern aus. Dies veranlasste
die NS-Spitze in der Folge ihre Strategie zur "Lösung der
Judenfrage" zu ändern und die Vertreibung und Ermordung der
jüdischen Bevölkerung für die Öffentlichkeit weniger sichtbar zu
organisieren. |
 |
 |
 |
Antisemitische Ausschreitungen
Wien 1938.
Juden werden zum Beschriften jüdischen Geschäfte gezwungen.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
1938 war es noch Ziel des NS-Regimes, die
österreichischen Juden zur Auswanderung zu zwingen. Um diese in
kontrollierte Bahnen zu lenken, wurde im Sommer 1938 unter
Leitung Adolf Eichmanns, des Referenten für jüdische
Angelegenheiten beim Sicherheitsdienst (SD) der SS, die
„Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien" errichtet (4,
Prinz-Eugen-Straße 22), in der alle mit der Auswanderung
befassten Behörden zusammengefasst waren. |
 |
 |
 |
Antisemitische Ausschreitungen
Wien 1938. Plakat "Arier! Kauft nicht bei Juden"
und Beschmierungen "Jud" in den Fenstern eines Wiener
Kaffeehauses.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Der Ausbruch des 2. Weltkriegs leitete eine
neue Phase der Entrechtung und Verfolgung der jüdischen
Bevölkerung ein. Bis zum September 1939 hatte das NS-Regime
durch Gesetze, Erlässe und Verordnungen die wirtschaftliche
Existenz der Juden vernichtet und die ersten Maßnahmen zu deren
Stigmatisierung (Einführung der „Kennkarte"), Isolation (Beginn
der Konzentration in bestimmten Wohnhäusern) sowie zur Einengung
der persönlichen Bewegungsfreiheit (beispielsweise
Aufenthaltsverbot in Parkanlagen) getroffen. Ab 1. September
1941 mussten alle Juden ab dem sechsten Lebensjahr den
Judenstern tragen und waren damit öffentlichen stigmatisiert. |
 |
 |
 |
Geschäftsauslage mit Plakat
"Jüdisches Geschäft"; 1938.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Eine psychische und physische Belastung stellte
die zwangsweise Umquartierung der Juden in bestimmte Wohnbezirke
beziehungsweise -häuser dar. Diese Umsiedlung innerhalb Wiens
stand in engem Konnex mit dem seitens der NS-Propaganda
gemachten Versprechen, die herrschende Wohnungsnot zu beseitigen
(1938 fehlten in Wien zirka 70.000 Wohnungen). In der Zeit vom
Anschluss bis Jahresende 1938 waren 44.000 der insgesamt 70.000
„Judenwohnungen" (vielfach von „oben" noch ungelenkt) „arisiert"
worden. |
 |
 |
 |
Jude mit Farbtopf, hinter ihm
die Wiener Meute; 1938.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Dieser gewalttätige Raubzug deckte jedoch bei
weitem nicht die Nachfrage. Zwar schuf die Auswanderung
beziehungsweise Vertreibung der Juden freiwerdenden Wohnraum,
doch ging dieser Prozess nur langsam vor sich, und auch das von
der NS-Propaganda angekündigte Wohnbauprogramm war spätestens
mit Kriegsbeginn zum Scheitern verurteilt. |
 |
 |
 |
Juden stellen sich um Pässe
an.
Vor dem Polizeikommissariat in Margareten, Wehrgasse; 1938.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
 |
 |
Juden 1938 am Rennweg vor dem
polnischen Konsulat.
NS-Flagge am Palais Hoyos, Rennweg 3.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Ab Sommer 1939 begann das städtische
Wohnungsamt freien Wohnraum zu „schaffen", indem es Juden
innerhalb Wiens in überwiegend von Juden bewohnte Häuser und
Wohnungen regelrecht hineinpferchte. Dem NS-Regime brachte die
Umsiedlung „freien" Wohnraum und die angestrebte Isolation der
Betroffenen. |
 |
 |
 |
Im Oktober 1941 beginnen die
Massendeportationen der Wiener Jüdinnen und Juden.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Die Separierung, die listenmäßige Erfassung der
„Juden"häuser und -wohnungen, das Verbot, ohne vorherige
Zustimmung der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung"
innerhalb Wiens zu übersiedeln, und die mit 1. April 1942
eingeführte Kennzeichnung aller „jüdischen" Wohnungen mittels
eines „Judensterns" erleichterten den zuständigen Behörden die
„Aushebung" (Abtransport der Opfer aus den Wohnungen in die
Sammellager) für die Deportation. Andererseits machte es die
Isolation den Juden praktisch unmöglich, sich durch Flucht dem
Zugriff der Verfolger zu entziehen. |
 |
 |
 |
Nach einer Generalsanierung
wird das Arbeiterstrandbad, übernommen von der
Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO), neu
eröffnet. Links neben
dem Eingang ein Schild, in dem Juden der Zutritt verweigert
wird. ;1938.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Deportationen aus Wien in die von den Deutschen
besetzten Gebiete in Osteuropa hatten früher eingesetzt als im
übrigen Reichsgebiet. Bereits im Oktober 1939 organisierte die
SS erste Deportationen aus Wien und Ostrava (Mähren-Ostrau) nach
Nisko am San, die aber bald darauf eingestellt wurden. Die
Mehrheit der nach Nisko Deportierten wurden über die
deutsch-sowjetische Demarkationslinie getrieben; bis auf wenige
Ausnahmen ist ihr Schicksal ungeklärt. |
 |
 |
 |
Juden müssen Judenstern
tragen; vermutlich 1941.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Die Deportationen aus Wien wurden (auch diesmal
früher als im übrigen „Großdeutschen Reich") im Februar 1941
wieder aufgenommen. Die Anstöße dazu gingen vom neuen
Reichsstatthalter von Wien, Baldur von Schirach, aus, der damit
sein Wohnungsprogramm verwirklichen wollte. Die in das
„Generalgouvernement" deportierten österreichischen Juden wurden
1942 (sofern sie nicht schon vorher Opfer der menschenunwürdigen
Lebensbedingungen geworden waren) im Zuge der „Aktion Reinhardt"
in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka
ermordet. Im Herbst 1941 beschloss das NS-Regime die
fabriksmäßig durchgeführte Ausrottung der sechs Millionen Juden
im nationalsozialistischen Machtbereich („Endlösung"). |
 |
 |
 |
Juden müssen Judenstern
tragen; vermutlich 1941.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Im Rahmen der im Herbst 1941
durchgeführten Massendeportationen wurden mehr als 5.000 Juden
aus Wien ins Getto Lodz eingewiesen; viele von ihnen wurden in
den mobilen Tötungseinrichtungen („Gaswägen") in Chelmo
(Kulmhof) ermordet. Ebenfalls im Herbst 1941 erfolgten weitere
Deportationen österreichischer Juden in das „Reichskommissariat
Ostland" (Minsk, Riga, Maly Trostinec); die Opfer wurden
überwiegend im Zuge von Massenerschießungen beziehungsweise in
Gaswägen ermordet. In der ersten Hälfte 1942 erfolgten
Deportationen aus Wien in den Distrikt Lublin, und zwar nach
Izbica, Wlodawa, Sobibor und Auschwitz. |
 |
|
 |
Juden müssen lt. Verordnung
auf der linken Brustseite einen gelben Judenstern in der
Öffentlichkeit tragen. Verordnung trat am
19.9.1941 in Kraft. Foto für Parteipresse bestimmt; 1941.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Bis auf wenige Ausnahmen starben die Opfer
dieser Transporte in den Gaskammern der Vernichtungslager Belzec
und Sobibor. Von Juni bis Oktober 1942 erfolgte die Einweisung
österreichischer Juden in das Getto Theresienstadt, von wo sie
in die Vernichtungs- und Konzentrationslager deportiert wurden.
Die Deportationen aus Wien gingen vom Aspangbahnhof (3,
Aspangstraße) ab, nachdem die Opfer in Sammellagern (2,
Castellezgasse 35; Kleine Sperlgasse 2a; Malzgasse;
Miesbachgasse 8; alle im 2. Bezirk) konzentriert worden waren. |
 |
 |
 |
Gefangene der Außenstelle
Ebensee, Aufnahme vom 7. Mai 1945. Unterernährte Gefangene,
fast tot vor Hunger, posieren im Konzentrationslager Ebensee,
Österreich. Das Lager wurde angeblich für "wissenschaftliche"
Experimente verwendet.
Es wurde von der 80. Division der U.S. Army befreit.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
 |
 |
Zwangsarbeitseinsatz einer
Gruppe von Wiener Juden
im Draukraftwerk Schwabegg bei Lavamünd um 1940.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Bereits Ende 1942 war Wien weitgehend
„judenrein". In mehreren Kleintransporten wurden zwischen März
1943 und Oktober 1944 etwa 350 Menschen von Wien nach Auschwitz
beziehungsweise etwa 1.400 nach Theresienstadt deportiert. |
 |
 |
 |
Erster Volksgerichtsprozess im
Wiener Landesgericht gegen Kriegsverbrecher.
Die Angeklagten auf der Bank v.l.: Polikovsky
(acht Jahre), Kronberger, Neunteufel,
Frank (alle Todesurteil); wegen der Ermordung
von 102 Juden während des Marsches
vom KZ Engerau nach Deutsch-Altenburg im März 1945.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Nach den Angaben des „Ältestenrats der Juden in
Wien" lebten Ende Dezember 1944 in Wien 5.799 Männer und Frauen,
die nach den Nürnberger Gesetzen als Juden galten, davon 4.746
in „Mischehe" und 1.064 „Geltungsjuden" (darunter verstand man
Personen, die zwar einen „arischen" Elternteil hatten, aber der
mosaischen Konfession angehörten). Nach der gleichen Quelle
lebten damals noch 118 Juden in Niederösterreich. Etwa 60.000
österreichische Juden fielen dem nationalsozialistischen Genozid
zum Opfer. |
 |
 |
 |
„Kniender und
straßenwaschender Jude“.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Das Mahnmal gegen Krieg und Faschismus ist ein
Werk des österreichischen Bildhauers Alfred Hrdlicka. Es steht
seit 1988 auf dem Wiener Albertinaplatz – 2009 nach Helmut Zilk
benannt –, gegenüber dem Palais Erzherzog Albrecht und der
Rückseite der Wiener Staatsoper. Als begehbares Denkmal soll es
der Erinnerung an die dunkelste Epoche der österreichischen
Geschichte dienen. Es ist allen Opfern von Krieg und Faschismus
gewidmet. |
 |
 |
 |
Das Hrdlicka-Mahnmal am
Albertinaplatz.
Bronzeskulptur des Pflaster reinigenden Juden.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
An dieser Stelle stand der Philipphof, ein
repräsentativer Großwohnbau der Gründerzeit, der am 12. März
1945 durch einen Bombenangriff zerstört wurde. Hunderte
Menschen, die in den Kellern Schutz gesucht hatten, fanden den
Tod. Die Verschütteten konnten zum Teil nicht ausgegraben
werden; nur 180 Leichen wurden geborgen. Die genaue Zahl der
Opfer ließ sich nicht ermitteln. Die Ruine wurde 1947
eingeebnet, das Grundstück im Eigentum des Staates nicht mehr
bebaut. Hier wurde im österreichischen Bedenkjahr 1988 von der
Stadt Wien auf Initiative von Bürgermeister Helmut Zilk das
„Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“ errichtet. Entwurf und
Ausführung lagen in den Händen des österreichischen Bildhauers
Alfred Hrdlicka. Es wurde am 24. November 1988 enthüllt. |
 |
 |
 |
Das Hrdlicka-Mahnmal am
Albertinaplatz.
Bronzeskulptur des Pflaster reinigenden Juden.
©
ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung |
 |
Die ersten Opfer der nationalsozialistischen
Machthaber waren neben den politischen Gegnern die Juden. Nach
dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 12. März
1938 wurden Jüdinnen und Juden gezwungen, in Reibpartien die
Straßen von pro-österreichischen und antinazistischen Parolen zu
säubern. Die bronzene Skulptur eines knienden, straßenwaschenden
Juden erinnert an diese Entwürdigung und Erniedrigung, die der
gnadenlosen Verfolgung und Ermordung jüdischer Bürger direkt
nach dem Anschluss voranging. |
 |
Text auszugsweise aus:
Novemberpogrom und Holocaust in Wien
Wiener Stadt- u. Landesarchiv (MA 8) und die
Wienbibliothek im Rathaus |
 |
 |
 |
Jüdisches Wien - Wien retour |
 |
Joachim Riedl: Jüdisches Wien |
 |
mit
freundlicher Genehmigung Christian Brandstätter
Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
 |
 |
Gläubige im Hof des Bethauses in der
Lilienbrunngasse in Wien-Leopoldstadt
während des Chamez-Verbrennens (Gesäuertes Brot) vor Pessach.
2009. Photographie von Gerhard Trumler.
© Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
Die jüdische Gemeinde in Wien ist weiterhin verschwindend
klein. Doch vor allem durch die Zuwanderung bucharischer und orientalischer
Juden hat sie sich in ihrer kulturellen und religiösen Vielfalt immens
entwickelt. Es gibt heute zwölf unterschiedliche religiöse Gruppierungen und
18 verschiedene Synagogen und Beträume, welche die wichtigsten Strömungen
des Judentums repräsentieren. Ultraorthodoxe Familien gehören vor allem in
Teilen der Leopoldstadt, dem traditionellen jüdischen Wohnviertel, wieder
zum Straßenbild. |
 |
 |
 |
Mazzesbacken in der orthodoxen Bäckerei
Ohel Moshe
in der Liliengasse in Wien-Leopoldstadt.
Vor 1996. Photographie von Harry Weber.
© Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
 |
 |
Umzug zu Sukkot im Stadttempel in der
Seitenstettengasse.
Vor 1996. Photographie von Harry Weber.
© Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
"In den Nachkriegsjahrzehnten sahen Juden keine Zukunft
für ein jüdisches Leben in Österreich", schreibt die Politologin Susanne
Cohen-Weisz in ihrer Dissertation über die Nachkriegsgeschichte der
jüdischen Gemeinde: "Sie fühlten sich gewiss nicht als ein Teil der
österreichischen Gesellschaft, die sich selbst noch auf der Suche nach ihrer
nationalen Identität befand. Die Generation der jüdischen Überlebenden in
Wien betrachtete Österreich nicht als ihr Heimatland; im Gegenteil, viele
Überlebenden hassten Österreich und blieben gleichviel aus den
unterschiedlichsten Gründen dort. Nicht selten fühlten sie sich schuldig,
weil sie geblieben waren, und gaben diese Gefühle an die nächste Generation
weiter. Ihre Schuldgefühle wurden noch durch die generelle Verurteilung
innerhalb des Weltjudentums verstärkt, die allen galt, die im Land ihrer
Mörder lebten." |
 |
 |
 |
Rabbi Schmuel Ernst Pressburger
(1918-1993) mit seinem Sohn
Michoel (links) in seiner Gemeinde in der historischen Schiffschul
in der großen Schiffgasse in Wien-Leopoldstadt.
Rabbi Pressburger, der Nachfahre einer alten chassidischen Dynastie,
wurde von seiner gemeinde wie ein heiliger verehrt.
Sein Sohn setzte nicht nur die Familientradition fort, sondern war
maßgeblich an der Rettung iranischer Juden beteiligt, die er im
Anschluss an die islamische Revolution über verschwiegene Kanäle
aus dem Staat der Mullahs herausschmuggelte und in seinem kleinen
Gemeindezentrum beherbergte.
1991. Photographie von Christine de Grancy.
© Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
 |
 |
Ansprache des Oberrabbiners Paul Chaim
Eisenberg am
Desider-Friedmann-Platz zu Chanukka.
Vor 1996. Photographie von Harry Weber.
© Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
Über 70 Jahre später, meint die Autorin, Tochter eines
Wiener Universitätsprofessors, habe sich jedoch eine spezifische
österreichisch-jüdische Identität herausgebildet. "Die Juden in Wien haben
sicherlich ihre Koffer ausgepackt", meint die Politologin, "doch die leeren
Koffer befinden sich weiterhin in Reichweite - für den Notfall." Das Novum
einer österreichisch-jüdischen Identität beinhalte nämlich nicht zugleich
auch einen österreichischen Patriotismus. Juden in Wien, Wiener Juden oder
jüdische Wiener, wie auch immer sie sich selbst bezeichnen mögen, betrachten
sich zwar als loyale Staatsbürger und fühlten sich zunehmend einem
demokratischen Staatswesen verbunden, jedoch nicht einem österreichischen
Vaterland oder einer österreichischen Nation. Der oft glühende Patriotismus,
den die Wiener Juden einst trotz aller antisemitischen Anfeindungen für das
Land an den Tag gelegt hatten, gehört unwiderruflich der Vergangenheit an.
Dieser Patriotismus wurde in der Shoah erstickt. Die in Österreich geborenen
Überlebenden konnten ihre Liebe zu einem Österreich, von dem sie sich
enttäuscht und betrogen fühlten, nie mehr zu neuem Leben erwecken. Ihre
Erfahrungen hatten sie gelehrt, dass Patriotismus uns Assimilation sie nicht
in Österreicher zu verwandeln vermochten, sondern dass sie in den Augen
ihrer Landsleute weiterhin als Juden angesehen wurden, denen man keinen
Schutz angedeihen ließ." |
 |
 |
 |
Beim koscheren Fleischhauer in der
Großen Pfarrgasse in Wien-Leopoldstadt.
1988. Photographie von Christine de Grancy.
© Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
 |
 |
In der koscheren Bäckerei in der
Hollandstraße in Wien-Leopoldstadt.
1988. Photographie von Christine de Grancy.
© Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
Im digitalen Zeitalter einer globalen
Informationsgesellschaft ist allerdings das heimatverliebte Sentiment
höchstwahrscheinlich nur noch ein anachronistischer Zug, eine historische
Reminiszenz an eine Epoche, in der Illusion noch die Kraft von Gewissheiten
zu besitzen vermochten. Das war ihre große Tragödie. Eine erste Ahnung von
der historischen Dimension der Auslöschung des europäischen Judentums
dämmerte dem deutschen Widerstandkämpfer Carl Goerdeler in der Nacht vor
seiner Hinrichtung nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler. Bedenke man,
dass die Gräuel der Christenverfolgung unter Diokletian immer noch erinnert
würden, so notierte er in der Todeszelle, dann müssten wohl für das Gedenken
an den Judenmord, der um so vieles grauenhafter sei, zweitausend Jahre nur
das Minimum sein. Dabei ging er von etwa hunderttausend ermordeten Juden
aus.
Nein, die Zeit, sie heilt keine Wunden. |
 |
 |
 |
Das Buch Joachim Riedl; Jüdisches Wien.
© Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
Einst beherbergte Wien eine der größten jüdischen
Gemeinden Europas, die Juden von Wien prägten das geistige, kulturelle und
ökonomische Leben ihrer Stadt. Sie bildeten keine homogene Gruppe, sondern
waren ebenso zersplittert wie die restliche Bevölkerung. Gleichviel waren
sie stets wütenden antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt, die ihnen nicht
erlaubten, aus der Rolle des Außenseiters zu entkommen. Die Mehrheit
verweigerte es ihnen, sich zu assimilieren und in der Stadt aufzugehen. Sie
waren gezwungen, neue Wege zu beschreiten, neuen Gedanken zu folgen, um sich
gesellschaftliche Positionen zu erobern. Erst dadurch wurden sie zu den
Wegbereitern der Moderne in Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaft. Heute
sind ihre Namen untrennbar mit der Geschichte der Stadt verbunden. Der
Nationalsozialismus bereitete der Blüte des jüdischen Lebens in Wien ein
jähes Ende. Die Ermordeten und Vertriebenen hinterließen ein Vakuum, das
nach wie vor nicht gefüllt werden konnte. Es dauerte Jahrzehnte, bis das
jüdische Leben in Wien wieder erwachte, zu seiner alten Größe wird es nie
mehr zurückkehren. In zahlreichen Bilddokumenten und begleitenden Essays
leben Glanz und Tragödie der Juden von Wien wieder auf. |
 |
Joachim Riedl, Autor |
 |
Joachim Riedl, geb. 1953 in Wien, ist Schriftsteller,
Ausstellungsgestalter und Journalist. Er studierte englische Literatur,
Soziologie und Psychologie in Cambridge und Wien. Zu seinen Publikationen
zählen „Wien, Stadt der Juden. Die Welt der Tante Jolesch“ (2004), „Der
Wende-Kanzler. Die unerschütterlich Beharrlichkeit des Wolfgang Schüssel“
(2001), „Die jüdische Welt von gestern“ (mit Rachel Salamander; 1998) und
„Das Geniale, das Gemeine – Versuch über Wien“ (1994). Er ist Leiter des
Wiener Büros der „ZEIT“ und lebt in Wien. |
 |
 |
 |
 |
auszugsweise aus |
 |
Joachim Riedl; Jüdisches Wien |
 |
Spezifikationen:
Format 23,5 x 27 cm
160 Seiten, ca. 160 Abb.
Hardcover |
 |
mit freundlicher Genehmigung
Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H. |
|
|
 |
 |
 |
Das Wiener Getto |
 |
Joseph Roth, Christian Brandstätter: Juden auf
Wanderschaft |
 |
mit
freundlicher Genehmigung Christian Brandstätter
Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
 |
 |
Die Praterstraße in der Wiener
Leopoldstadt. Um 1900.
© Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
Die Ostjuden, die nach Wien kommen, siedeln sich in der
Leopoldstadt an, dem zweiten der zwanzig Bezirke. Sie sind dort in der Nähe
des Praters und des Nordbahnhofs. Im Prater können Hausierer leben - von
Ansichtskarten für die Fremden und vom Mitleid, das den Frohsinn überall zu
begleiten pflegt. Am Nordbahnhof sind sie alle angekommen, durch seine
Hallen weht noch das Aroma der Heimat, und es ist das offene Tor zum
Rückweg.
Die Leopoldstadt ist ein freiwilliges Getto. Viele Brücken verbinden sie mit
den andern Bezirken der Stadt. Über diese Brücken gehen tagsüber die
Händler, Hausierer, Börsenmakler, Geschäftsmacher, also alle unproduktiven
Elemente des eingewanderten Ostjudentums. Aber über dieselben Brücken gehen
in den Morgenstunden auch die Nachkommen derselben unproduktiven Elemente,
die Söhne und Töchter der Händler, die in den Fabriken, Büros, Banken,
Redaktionen und Werkstätten arbeiten |
 |
 |
 |
 |
 |
 |
 |
Massenquartier im
Asyl in der
Kleinen Schiffgasse in der Wiener
Leopoldstadt. Photographie von
Hermann Drawe, 1904. |
 |
In den Quartieren
des Elends:
Küche in einem Massenquartier in der
Wiener Leopoldstadt. Photographie
von Hermann Drawe, 1904. |
 |
 |
 |
 |
 |
 |
 |
 |
 |
Ein jüdischer
Hausierer und ein
Dienstmann am Graben in Wien I.
Photographie von Emil Mayer.
Um 1910. |
 |
Auf dem Markt im
Werd
(Karmelitermarkt) in der
Wiener Leopoldstadt.
1915. |
|
 |
© Christian Brandstätter
Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
Die Söhne und Töchter der Ostjuden sind produktiv. Mögen
die Eltern schachern und hausieren. Die Jungen sind die begabtesten Anwälte,
Mediziner, Bankbeamten, Journalisten, Schauspieler. Die Leopoldstadt ist ein
armer Bezirk. Es gibt kleine Wohnungen, in denen sechsköpfige Familien
wohnen. Es gibt kleine Herbergen, in denen fünfzig, sechzig Leute auf dem
Fußboden übernachten. |
 |
 |
 |
"Bei der grünen Bettfrau": Ein Lager in
der Binderau im Wiener Prater.
Photographie von Hermann Drawe, 1904.
© Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
Im Prater schlafen die Obdachlosen. In der Nähe der Bahnhöfe wohnen die
Ärmsten aller Arbeiter. Die Ostjuden leben nicht besser als die christlichen
Bewohner dieses Stadtteils. Sie haben viele Kinder, sie sind an Hygiene und
Sauberkeit nicht gewöhnt, und sie sind gehasst. Niemand nimmt sich ihrer an.
Ihre Vettern und Glaubensgenossen, die im ersten Bezirk in den Redaktionen
sitzen, sind "schon" Wiener und wollen nicht mit Ostjuden verwandt sein oder
gar verwechselt werden. Die Christlichsozialen und Deutschnationalen haben
den Antisemitismus als wichtigen Programmpunkt. Die Sozialdemokraten
fürchten den Ruf einer "jüdischen Partei". Die Jüdischnationalen sind
ziemlich machtlos. Außerdem ist die jüdisch-nationale Partei eine
bürgerliche. Die große Masse der Ostjuden aber ist Proletariat. |
 |
 |
 |
Alte Gettohäuser in der Tandelmarktgasse
in der Wiener Leopoldstadt. Um 1900.
© Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H. |
 |
Die Ostjuden sind auf die Unterstützung durch die bürgerlichen
Wohlfahrtsorganisationen angewiesen. Man ist geneigt, die jüdische
Barmherzigkeit höher einzuschätzen, als sie verdient. Die jüdische
Wohltätigkeit ist ebenso eine unvollkommene Einrichtung wie jede andere. Die
Wohltätigkeit befriedigt in erster Linie die Wohltäter. In einem jüdischen
Wohlfahrtsbüro wird der Ostjude von seinen Glaubensgenossen und sogar von
seinen Landsleuten oft nicht besser behandelt als von Christen. Es ist
furchtbar schwer ein Ostjude zu sein; es gibt kein schwereres Los als das
eines fremden Ostjuden in Wien. |
 |
 |
 |
 |
auszugsweise aus |
 |
Joseph Roth, Christian
Brandstätter;
Juden auf Wanderschaft - Illustrierte Ausgabe |
 |
Der österreichische Dichter und
Publizist Joseph Roth ist einer der wunderbarsten
und bedeutendsten deutschsprachigen Erzähler des 20.
Jahrhunderts. In seinem berühmtesten Essay »Juden
auf Wanderschaft« von 1927 schildert er das Leben
der Juden in Europa - ein Meisterwerk des
literarischen Journalismus und ein Zeitdokument, das
seinesgleichen sucht. |
 |
mit freundlicher Genehmigung
Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H. |
|
|
 |
 |
 |
|
 |